«Wir müssen den Schülerinnen und Schülern eine Zukunftsorientierung aufzeigen»
Interview: Sebastian Weber
Warum ist es überhaupt wichtig, dass unsere Schüler*innen lernen, wie nachhaltige Entwicklung aussieht?
Heiner Aebischer: Nachhaltigkeit ist zu einem Modethema geworden. Es ist notwendig, dass wir das Konzept der nachhaltigen Entwicklung aufschlüsseln und genau erklären, was es eigentlich bedeutet. Es ist wichtig zu verstehen, welche Modelle, Strategien und Wege gewählt werden können, um eine nachhaltigere Entwicklung zu erreichen. Das ist die Aufgabe von BNE, der Bildung für nachhaltige Entwicklung. Jeder Weg ist sinnvoll, aber es gibt Unterschiede bei der Realisierbarkeit. Die Schüler*innen sollen die unterschiedlichen Strategien und deren (Aus-)Wirkung kennen und sich selbstkritisch zu diesem Thema äussern können.
Matthias Probst: Wir müssen den Schüler*innen im Unterricht auch eine Zukunftsorientierung aufzeigen. Die Lehrpläne in der Schweiz weisen nur wenige Themen auf, die zukunftsorientiert sind. Mit BNE soll deshalb ganz bewusst die Zukunft der Gesellschaft stärker in die Bildung aufgenommen werden. Es gibt wissenschaftlich belegte Herausforderungen wie etwa den Klimawandel oder die Ressourcenknappheit, die uns in Zukunft immer stärker beschäftigen werden. Wir müssen mit den Jugendlichen über eine resiliente Gesellschaft sprechen, die auf wirtschaftliche, gesellschaftliche und ökologische Krisen vorbereitet ist.

Welches sind die gesellschaftlichen Herausforderungen, die unbedingt im Unterricht thematisiert werden sollten?
Aebischer: Ich finde es wichtig, dass wir im Unterricht vor allem jene Themen behandeln, welche die Realität der Schüler*innen vor Ort aufgreifen. Die Jugendlichen sollen lernen, gesellschaftliche, wirtschaftliche und ökologische Prozesse in ihrem Lebensraum zu verstehen. Sie sollen ein Verständnis dafür entwickeln, wo und wie sie selbst einen Einfluss auf diese Entwicklung nehmen können. Die globale Sicht ist wichtig, aber gleichwohl liegt der Fokus in der Schule auf der Region, in der wir leben.
An der Notwendigkeit von BNE im neuen Rahmenlehrplan gibt es für sie beide keinen Zweifel?
Aebischer: Nein, nicht im Geringsten.
Probst: Ich müsste eine Gegenfrage stellen: Was spricht gegen eine Bildung, die einen Beitrag zu einer zukunftsfähigen, resilienten Gesellschaft leistet? Man darf BNE nicht falsch verstehen. Es geht nicht um die Vermittlung eines vorgegebenen engen Wegs. Wir haben für die Schaffung einer sicheren und gerechten Gesellschaft einen gewissen Gestaltungsspielraum. Die Jugendlichen sollen befähigt werden, die Zukunft innerhalb der planetaren Belastbarkeitsgrenzen mitzugestalten und gemeinsam mit anderen Interessensvertreter*innen den Weg hin zu einer zukunftsfähigen Gesellschaft auszuhandeln.
Nun wurde in der öffentlichen Debatte deutlich, dass nicht alle mit BNE glücklich sind. Einige befürchten, dass eine rot-grüne Ideologie in die Klassenzimmer einziehen könnte. Es ist von einer «politischen Agenda» die Rede. Was sagen Sie zu dieser Kritik?
Aebischer: Ich finde es unfair, wenn Bildung, die eine nachhaltige Entwicklung thematisiert, als politisch ideologisch bezeichnet wird. Eine solche Argumentation ist nicht korrekt und missbraucht den eigentlichen Sinn von BNE. Wie kann man dagegen sein, Menschen und Räume schützen zu wollen? Leider wird BNE oft nur auf den Umweltschutz bezogen. Es hat sich noch zu wenig etabliert, dass BNE auch die gesellschaftliche und wirtschaftliche Nachhaltigkeit thematisiert und deren Legitimation nicht bestreitet. Dass es Modelle gibt, welche die ökologische Dimension stärker gewichten, bedeutet nicht, dass BNE eine politische Ideologie verfolgt.
Die Schüler*innen werden also mit BNE nicht zu Klimakleber*innen?
Probst: In keiner Art und Weise. Es wäre wichtig, dass wir unsere Perspektive ändern. Es gibt Ökosysteme, die eine ökologische und gleichzeitig eine wirtschaftliche Leistung für uns Menschen erbringen. Am Rhein werden beispielsweise zigtausende Liter Wasser aus dem Fluss in den Waldboden geleitet und ein paar Tage später erhalten wir Wasser in Trinkqualität zurück. Der Boden und der Wald als Ökosystem übernehmen dort eine wichtige Funktion für unsere Gesellschaft. Sie leisten etwas, das uns eigentlich mehrere Millionen Franken kosten würde. Fällt diese natürliche Wasserreinigung weg, haben wir ein gesellschaftliches und wirtschaftliches Problem, nicht nur ein ökologisches.

Es geht aber bei BNE um gewisse Werte und Haltungen, die vermittelt werden. Diese Haltungen würden nun als Kompetenz definiert und benotet, bemängeln die Kritiker*innen.
Aebischer: Es ist im Rahmenplan nirgends festgehalten, dass diese Kompetenzen bewertet werden sollen. Es muss aber sichergestellt werden, dass sie gefördert und in allen Fächern integriert werden. Wir stellen im Unterricht verschiedene Modelle vor, wie eine nachhaltigere Entwicklung aussehen könnte. Und natürlich kann in einer Prüfung ein Modellvergleich abgefragt werden. Dies heisst aber nicht, dass die Antworten der Schüler*innen nur dann richtig sind, wenn sie jenes Modell bevorzugen, das auf eine starke Nachhaltigkeit setzt und die Umwelt bevorzugt. In der Schule wollen wir das Bild vermitteln, dass jeder Weg sinnvoll ist, der zu mehr Nachhaltigkeit führt.
Probst: Untersuchungen des Lehrplans haben gezeigt, dass kaum etwas darin vollständig wertfrei ist. Werte und Normen lassen sich also sowieso fast nirgends verhindern. Zentral ist aber, dass bei BNE nicht Wissen weitergegeben wird, welches das korrekte Verhalten vermittelt. Stattdessen ist es die Aufgabe der Schule, die Jugendlichen zu befähigen, eigenständig über komplexe und kontroverse Themen wie zum Beispiel den Klimawandel und die Biodiversität nachzudenken und über Handlungsmöglichkeiten zu diskutieren.
Wie ist die Stimmung bei Ihren Lehrerkolleg*innen bezüglich BNE?
Aebischer: Ich durfte kürzlich an einer Weiterbildung in St. Gallen zum Thema BNE im Geografieunterricht sprechen. Ich habe dabei zum einen festgestellt, dass wir im Kanton Bern bei der Integration von BNE im Unterricht schon sehr weit sind, wurde BNE doch bereits im Lehrplan 17 verankert. Zum anderen bin ich in den Gesprächen mit den Lehrpersonen aus St. Gallen noch auf viele Unsicherheiten gestossen. Die Kolleginnen und Kollegen fragen sich etwa, wie sie mit den verschiedenen Modellen umgehen und welche sie wie thematisieren sollen. Mir scheint es wichtig, dass wir die verschiedenen Modelle offen zur Diskussion stellen und die Lernenden befähigen, sich ihr eigenes Urteil zu bilden.
Es besteht also bei der Lehrerschaft noch Informationsbedarf?
Aebischer: Ja, das ist so. Diese Lehrpersonen waren nicht skeptisch bezüglich der Implementierung von BNE im gymnasialen Unterricht, aber sie sind teils noch unsicher, wie die konkrete Umsetzung dieses neuen transversalen Unterrichtsbereichs ausgestaltet werden kann. Deshalb müssen wir in den kommenden Jahren Weiterbildungsveranstaltungen mit Praxisbeispielen durchführen. Eine gute Gelegenheit bietet sich im November 2025 in Biel an einer zweitägigen Veranstaltung für Geografielehrpersonen (DialoGéo).
Sind beim Thema Nachhaltigkeit nur die Schüler*innen und Lehrpersonen gefordert oder die ganze Schule?
Aebischer: Das ist ein ganz zentraler Aspekt. Es ist wichtig, dass Schulleitungen die Anstrengungen zur Verankerung von BNE unterstützen, zum Beispiel in Bezug auf Unterrichtsstruktur und Ressourcen. Sie besitzen eine wichtige Rolle, wenn es um die Implementierung von Nachhaltigkeit im Schulhaus geht. Zudem ist es wichtig, dass eine Schulleitung ihre Bereitschaft signalisiert, dass im Unterricht kontrovers und meinungsoffen über solche Themen diskutiert werden kann.

Geografie wurde als Leitfach für BNE festgelegt. Weshalb ist sie dort richtig aufgehoben?
Probst: BNE ist herausfordernd und verlangt ein wissenschaftlich fundiertes sowie differenziertes Verständnis von nachhaltiger Entwicklung, welches nahe beim Fachverständnis der Geografie liegt. Das Fach Geografie ist daher prädestiniert, diese aufwendigen Grundlagen so zu legen, dass alle Fächer darauf aufbauend ihre fachlichen Beiträge zu BNE leisten können Als Vergleich: Im Deutschunterricht lernen die Schüler*innen zum Beispiel Grammatik oder Textverständnis. Auf diesen Sprachkompetenzen kann jedes andere Fach aufbauen. So muss man sich das auch bei BNE vorstellen. Wenn BNE in allen Fächern ohne diese Grundlagen zu nachhaltiger Entwicklung umgesetzt wird, dann wird es nicht funktionieren. Deshalb braucht es das Fach Geografie, welches dem Verständnis von einer nachhaltigen Entwicklung sehr nahesteht. Geografie untersuchte schon immer Wechselwirkungen zu Umwelt und Gesellschaft im Raum und ist daher dem Verständnis von nachhaltiger Entwicklung seit jeher sehr nahe.
An Ihrer Schule Herr Aebischer, dem Gymnasium Kirchenfeld in Bern, wurde auf das laufende Schuljahr hin das neue Fach NExt eingeführt.
Aebischer: «NExt» (Nachhaltige Entwicklung extended) ist ein Pflichtwahlfach, das auf der Stufe GYM4, also im 12. Schuljahr, angeboten wird. Die Schüler*innen können aktuell aus 17 verschiedenen Kursen auswählen. In diesen Kursen wird in Halbklassen die nachhaltige Entwicklung aus der Perspektive verschiedener Fachbereiche beleuchtet. Alle Lehrpersonen sind angeregt worden, einen Kurs mit Bezug zu ihrem Fach anzubieten. Es werden in diesen Kursen viele Exkursionen, Betriebsbesichtigungen oder Diskussionsrunden mit Gästen organisiert. Die Schüler*innen sollen sich so ein Bild davon machen können, wie nachhaltige Entwicklung aussehen kann. Die Themen sind vielfältig und reichen von Ernährung über Kultur, Stadtbegrünung bis hin zu Migrationspolitik. Die Kurse finden in Doppellektionen während 12 Wochen statt. Am Ende gibt es eine Abschlussveranstaltung, an der alle Gruppen ihre Erkenntnisse in Form von Workshops präsentieren. Abschliessend hält eine eingeladene externe Fachperson ein Input-Referat.
Und wie fällt Ihr erstes Fazit zu «NExt» aus?
Aebischer: Die erste Durchführung ist abgeschlossen. Das Fazit ist positiv. Es läuft noch nicht alles perfekt, aber die Kurse sind bei den Schüler*innen gut angekommen. Und offenbar hat es sich bereits herumgesprochen. Wir bekommen bald Besuch von einer Delegation aus dem Kanton Schaffhausen, die von diesem Fach gehört hat und vor Ort sehen möchte, wie wir es umsetzen. Herr Probst, das klingt alles sehr beachtlich. Glauben Sie, dieses Beispiel könnte als Vorbild für andere Schulen dienen?
Probst: Durchaus. Es ist ein Modell, das ich mir an jedem Gymnasium vorstellen könnte. Es muss sich aber jede Schule an ihren eigenen Rahmenbedingungen orientieren. Eine kleinere Schule wird ein solches Angebot vermutlich nicht genauso umsetzen können wie das Gymnasium Kirchenfeld. Es benötigt jeweils schulbezogene Anpassungen.
Die Umsetzung kann also überall ein wenig anders aussehen. Was wäre noch alles denkbar?
Aebischer: Je nach den Ressourcen, über welche eine Schule verfügt, könnte ich mir Sonderwochen vorstellen, in denen das Thema Nachhaltigkeit ins Zentrum gerückt und mit Lehrpersonen aus verschiedenen Fachbereichen behandelt wird. Ich könnte mir auch vorstellen, dass man als Schule Partnerschaften mit Organisationen und Unternehmen aus der Umgebung eingeht, welche den Schüler*innen eine Art Praktikum ermöglichen.
Wird BNE helfen, dass kommende Generationen nachhaltiger leben?
Aebischer: Ganz klar. Mit dem Rüstzeug, das wir den Schüler*innen weitergeben dürfen, ist eine hoffnungsvollere Herangehensweise an die Zukunft möglich.
Probst: Wir geben den Jugendlichen mit BNE ein Gerüst an die Hand, welches sie selbst kreativ ausgestalten können. Es soll ihnen Perspektiven aufzeigen, in welche Richtung eine «enkeltaugliche Entwicklung» gehen kann.
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Heiner Aebischer
Heiner Aebischer unterrichtet als Geografielehrer am Gymnasium Kirchenfeld in Bern. Er war Mitautor des Fachlehrplans Geografie im Kanton Bern LP17 und Mitglied der Autorengruppe für den transversalen Unterrichtsbereich BNE im neuen Rahmenlehrplan.
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Matthias Probst
Matthias Probst ist Dozent Fachdidaktik Geografie am Institut Sekundarstufe II und im Fachdidaktikzentrum Natur, Mensch, Gesellschaft und Nachhaltige Entwicklung der PH Bern. Er unterrichtet seit 1996 als Geografieund Biologielehrer am Gymnasium Burgdorf und ist Lehrmittelautor beim hep Verlag.