Expertise statt Export – die duale Berufsbildung im Ausland
Text: Sebastian Weber
Wer einen Blick in die Schlagzeilen wirft, könnte zum Schluss kommen, dass die Berufsbildung in der Schweiz bald ausgedient hat. Von immer mehr Jugendlichen, die sich für das Gymnasium und gegen eine Lehre entscheiden, ist dort zu lesen, vom grossen Fachkräftemangel. Tatsächlich ist in vielen europäischen Ländern eine solche Tendenz hin zu einer Akademisierung nicht von der Hand zu weisen. Auf die Schweiz trifft dies aber nach wie vor nur bedingt zu. Die Zahlen jedenfalls würden eine stärkere Verschiebung hin zum gymnasialen Weg nicht bestätigen, sagt Antje Barabasch von der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung (EHB). Tatsächlich schlägt auf der Sekundarstufe II nach wie vor eine Mehrheit der Schweizer Jugendlichen den dualen Berufsbildungsweg ein. Vom akademischen «Drift» im Ausland dürfe sich die Schweiz nicht verunsichern lassen, findet Barabasch. Sie habe genau die richtige Strategie gewählt: «Die Schweiz hat die eigene Stärke, also die duale Berufsbildung, bewahrt und ist nicht ins Schwanken geraten. Stattdessen wurden die Lehrpläne kontinuierlich auf die neuen Anforderungen der Arbeitswelt abgestimmt.»
Die duale Berufslehre in der Schweiz zeichnet sich durch einen hohen Praxisanteil aus: Die Mehrheit der Lernenden verbringt drei bis vier Tage im Betrieb und besucht daneben einen bis zwei Tage pro Woche die Berufsfachschule sowie regelmässig überbetriebliche Kurse. Dies führt dazu, dass der Eintritt in den Arbeitsmarkt erleichtert wird, die Abschlussquote auf der Sekundarstufe II hoch ist und das Land im internationalen Vergleich nach wie vor eine tiefe Jugendarbeitslosigkeit aufweist. Dieser Umstand blieb auch im Ausland nicht unbemerkt. Autor Matthias Jäger, der zusammen mit Markus Maurer und Martin Fässler das Buch «Exportartikel Berufsbildung? » (hep Verlag, 2016) geschrieben hat, spricht in diesem Zusammenhang gar von einem «Revival» der Berufsbildung in der Entwicklungszusammenarbeit. Vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise 2008 habe die Tatsache, dass Länder mit einem starken dualen Berufsbildungssystem eine deutlich tiefere Jugendarbeitslosigkeit aufweisen als solche ohne, neues Interesse an diesem Modell geweckt, so Jäger.
Diese Entwicklung hat man auch an der EHB registriert: Seit 2015 sind dort mehr als 200 internationale Delegationen empfangen worden, die sich über das Schweizer Berufsbildungssystem informieren wollten. Ende letzten Jahres war zum Beispiel eine Delegation aus der Elfenbeinküste zu Gast. «Das Interesse hat gerade in den letzten paar Jahren noch einmal zugenommen», findet Antje Barabasch, die an der EHB den Forschungsschwerpunkt Lehren und Lernen in der Berufsbildung leitet. Sie führt das aber aktuell weniger auf den Aspekt der Jugendarbeitslosigkeit zurück als vielmehr auf den seit der Corona-Pandemie steigenden Fachkräftemangel. «Dieser führt dazu, dass immer mehr Überlegungen hinsichtlich der Verwertbarkeit von akademischen Abschlüssen angestellt werden.» Weil die Studiengebühren angestiegen seien, hätten sich viele Studenten verschuldet. Später hätten sie aber keine adäquat bezahlten Arbeitsstellen gefunden. «In manchen Ländern raten die Eltern ihren Kindern deshalb wieder vermehrt zu Handwerksberufen, in denen sie besser verdienen», sagt Barabasch.
Das wachsende internationale Interesse hat in der Schweiz wiederum dafür gesorgt, dass die Berufsbildung in der Entwicklungszusammenarbeit wieder stärker in den Fokus geraten ist. «Es ist eine politische Dynamik ausgelöst worden», sagt der ehemalige Berufsschullehrer Mattias Jäger, der zahlreiche Projekte der Entwicklungszusammenarbeit in Asien, Afrika und Osteuropa begleitet hat. Er und seine Mitautoren beschreiben in ihrem Buch, dass dies noch in den 1990er Jahren undenkbar gewesen ist. «Der Absicht, das duale Modell ins Ausland zu exportieren, stand man damals kritisch gegenüber», sagt Markus Maurer, Professor für Berufspädagogik an der PH Zürich. Ab 2008 – ausgehend von einem ersten Pilotprojekt in Indien – änderte sich dies zunehmend: «Mit der Intention, damit auch die Berufsbildung im eigenen Land zu stärken, wollte sich die Schweiz nun international besser positionieren.»
Doch allein mit der Absicht, das duale Modell ins Ausland zu tragen, ist es nicht getan. Die Frage ist, ob sich die Schweizer Berufsbildung überhaupt in andere Länder exportieren lässt. Die Antwort darauf ist schnell gefunden: Nein. Alle Expert*innen sind sich mittlerweile einig, dass dies nicht möglich ist. Markus Maurer und Matthias Jäger wehren sich dagegen, vom Begriff Export zu sprechen. Diese Begrifflichkeit sei irreführend, da sie den Eindruck erwecke, die Schweizer Berufsbildung könne als gebrauchsfertiges Produkt eins zu eins in andere Länder übertragen werden, sagt Matthias Jäger. Das Bestreben vieler Partnerländer gerade in Osteuropa, auf der Sekundarstufe II flächendeckend ein duales System nach Schweizer Vorbild einzuführen, sei chancenlos. Auch der Bundesrat hat sich 2010 in einem Bericht kritisch zu den Erfolgschancen eines Berufsbildungsexports geäussert. Es würden die wesentlichen Grundlagen und Rahmenbedingungen hierfür fehlen, hiess es darin.
Tatsächlich ist hierzulande die Erkenntnis gereift, dass unsere Berufsbildung nur im entsprechenden Kontext funktionieren kann. In der Schweiz habe das duale Modell eine lange Tradition, sagt Markus Maurer. Andere Länder wie zum Beispiel solche in Ex-Jugoslawien, die durch den Krieg einen harten «Schnitt» erlebt haben, oder auch ehemalige Kolonien hätten diese Voraussetzungen nicht. In diesen Partnerländern fehlen neben den finanziellen Möglichkeiten sowie den Berufsverbänden vor allem das in der Schweiz vorhandene Vertrauen der Betriebe. Hierzulande wissen diese, dass sich ein Engagement in der Berufsbildung auch für sie lohnen wird. Vielerorts aber engagiere sich die Industrie nur dann an der Berufsbildung, wenn die nötigen Fachkräfte fehlen würden, sagt Jäger, «weil dann ein unmittelbares Interesse daran besteht». Dies betreffe aber weniger die Sekundarstufe II, sondern eher Qualifikationen, die in der Schweiz zur höheren Berufsbildung gehörten.
Antje Barabasch ist der Überzeugung, dass in vielen Ländern auch die nötige «Kultur» fehlt, um ein duales Modell etablieren zu können. Sie plädiert dafür, dass Veränderungen im Bildungssystem vor allem in Partnerschaft mit den Unternehmen, von unten nach oben angestrebt werden sollten. Und eben dafür benötige es Kulturen, in denen ein grosses Vertrauen in die Institutionen vorhanden sei, sagt Barabasch. Ansonsten seien viele Eltern nicht bereit, ihre Kinder in die Berufsbildung zu schicken. «Denn sie wissen nicht, welche Perspektiven die Lernenden mit diesem Abschluss haben.»
Beide Seiten, sowohl die Unternehmen als auch die Lernenden, zu überzeugen, von der Berufsbildung profitieren zu können, sei oftmals schwierig, findet auch Markus Maurer. Vor allem dann, wenn die Lernenden mit ihrem Abschluss wenig anfangen könnten, so wie das zum Beispiel in vielen Ländern des Westbalkans der Fall sei. Der Arbeitsmarkt dort habe sich so entwickelt, dass es nur zwei Optionen gebe: Entweder man steige ohne Berufsbildungsabschluss direkt in die Berufswelt ein oder es werde von den Arbeitgebern ein Universitätsabschluss erwartet. Maurer: «Berufsbildungsabschlüsse haben auf einem solchen Arbeitsmarkt einen geringen Wert.»
Wenig hilfreich, so finden Maurer und Jäger, sei es in diesem Zusammenhang auch, dass die Berufsbildung im Kontext der Entwicklungszusammenarbeit primär als Instrument der Armutsreduktion verstanden werde. So richte sich die Berufsbildung im Kontext vieler Projekte an die Allerärmsten in der Gesellschaft, sagt Maurer. «Viele Eltern und Politiker*innen kamen so zur Überzeugung, die Berufsbildung sei etwas für die armen Leute, aber sicher nicht für die eigenen Kinder.» Auf diese Weise zu versuchen, den Wert beruflicher Abschlüsse zu stärken, sei meist unmöglich. Daher erachte er eine stark armutsorientierte Berufsbildung für Schulabbrecher vielmals nicht als «die richtige Medizin». «Dies hat den Charakter internationaler Sozialarbeit », ergänzt Matthias Jäger. Sinnvoller wären aus Sicht der beiden Experten daher in vielen Fällen verstärkte Investitionen in die Grundschulbildung einerseits und eine tatsächlich stärker wirtschaftsorientierte Berufsbildung für mittlere und höhere Qualifikationsstufen andererseits.
Doch was können wir tun, wenn es nicht möglich ist, unser duales Modell als Ganzes zu transferieren? Antje Barabasch meint, viele Partnerländer seien sich sehr wohl bewusst, dass ein Export des ganzen Schweizer Berufsbildungssystems nicht möglich sei und deshalb auch gar nicht daran interessiert. «Schliesslich ist das noch nie irgendwo gelungen », sagt sie. Vielmehr seien die Partner an der Dualität als solcher interessiert, also daran, das praktische Lernen in die Ausbildung zu integrieren und die Abschlüsse arbeitsmarktfähiger zu machen. «Wenn das System als Ganzes nicht übertragen werden kann, will man zumindest so viel wie möglich darüber lernen», sagt Barabasch. Sie hält den Exportbegriff ebenfalls für falsch und spricht in diesem Kontext von Zusammenarbeit und Beratung. Damit hat die EHB, die ihre Expertise bereits in über 30 Ländern eingebracht hat, Erfahrung. Barabasch selbst war gerade beruflich in Neuseeland unterwegs: «Die dortigen Arbeitgeberorganisationen wollten von mir alles Mögliche über das Schweizer System wissen.» Was insofern erfreulich sei, als die Unternehmen die wichtigste Zielgruppe seien: «Nur mit ihrer Unterstützung kann es zu einer nachhaltigen Veränderung kommen», ist sich Barabasch sicher.
Expertise statt Export also? Markus Maurer und Matthias Jäger stossen ins gleiche Horn: Die Schweiz sei prädestiniert dafür, ihr Knowhow an die Partnerländer weiterzugeben. «In der Schweiz wissen wir, wie eine vielfältige Berufsbildung in verschiedenen Branchen und Kantonen unterschiedlich aussehen kann», sagt Maurer. Von unseren Erfahrungen im Umgang mit dieser Diversität könne das Ausland profitieren. Maurer und Jäger plädieren dafür, dass die Dualität nicht zu sehr auf die Frage reduziert wird, ob sich die Lehrbetriebe einbinden lassen. «Bei der Berufsbildung sollte es primär um die Verbindung von Theorie und Praxis gehen», so Jäger. Hierfür könne man sich auch in einer schulisch organisierten Form von Ausbildung stark machen.
Der Wissenstransfer soll es den Akteuren in den Partnerländern zudem erlauben, ihre Reformen selbst umzusetzen. Was nicht zuletzt der Nachhaltigkeit der Projekte zugutekommen soll. Ebendort hat Markus Maurer Nachholbedarf ausgemacht: In den Partnerländern gebe es häufig keine regulären Strukturen, die eine nachhaltige Finanzierung ermöglichen würden, gerade im Falle von stark armutsorientierten Berufsbildungsangeboten. Mehr als einmal habe er es deshalb beobachtet, dass Kurse ausgearbeitet worden seien, die den Lernenden einen Einstieg in den Arbeitsmarkt ermöglichten. «Als es aber um die Frage ging, wie diese Angebote mittel oder längerfristig finanziert werden können, habe ich oft keine überzeugenden Antworten erhalten.»
Dies hat auch Antje Barabasch festgestellt: «Die unmittelbare Nachhaltigkeit, die man sich wünschen würde, nämlich dass die unterstützten Institutionen über das offizielle Projektende hinaus erhalten bleiben, tritt oftmals nicht ein.» Sie zweifelt aber nicht daran, dass die Entwicklungszusammenarbeit trotzdem einen positiven Einfluss auf die Leute hat. So baue vielleicht ein Kfz-Mechaniker, der sich in einem solchen Kurs habe ausbilden lassen, später seine eigene Werkstatt auf und bilde selbst Lernende aus. Dies lasse sich schlicht nicht nachverfolgen. «Ich bin mir aber sicher, wir hinterlassen auf diesem Weg deutliche Fussspuren.»