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Zwei Monate Lockdown – wie kritisch steht es jetzt um die Schweizer Wirtschaft? Interview mit Aymo Brunetti vollständig

Corona bremst die Wirtschaft in enormem Ausmass. Der Wirtschaftsprofessor und hep-Autor Aymo Brunetti verrät Belinda Kreuzer im Interview, was der Schweiz bevorsteht.

Belinda Kreuzer (BK): Nennen Sie spontan drei Begriffe, welche Ihnen im Kontext der COVID-19 Krise in den Sinn kommen?
Aymo Brunetti (AB): Pandemie, Ansteckung und Wirtschaftskrise.

BK: Weshalb haben Sie sich für diese Begriffe entschieden?
AB: Prognosen vom Januar und Februar mussten komplett revidiert werden, da niemand mit einem solchen Ausmass der Pandemie gerechnet hat. Es war eine grosse Überraschung. Die Frage ist, wie lange die Krise noch anhalten wird. Die bisherigen Prognosen für die wirtschaftliche Entwicklung haben einen V-förmigen Verlauf. Man geht von einem sehr schlechten 2020 und dann von einem sehr guten 2021 aus. Im Gegensatz zur Finanzkrise ist wirtschaftlich nichts «kaputt», so dass sich die Wirtschaft schneller erholen könnte. Somit bleibt ein V-förmiger (oder vielleicht auch U-förmiger) Verlauf plausibel, aber nur sofern es nicht zu einer zweiten Ansteckungswelle und vor allem zu einem zweiten Lockdown kommt.

BK: Welche Auswirkungen hat die Krise für die Schweizer Wirtschaft?
AB: Von März bis Mai erlebten wir den massivsten Wirtschaftseinbruch seit Daten erhoben werden. Wie in vielen anderen Ländern wird 2020 deshalb insgesamt zum tiefsten Rezessionsjahr seit dem 2. Weltkrieg und das obwohl in der zweiten Jahreshälfte das Wachstum schon wieder ziemlich respektabel sein dürfte.

BK: Sind wir im internationalen Vergleich mit einem blauen Auge davongekommen?
AB: Die Mehrheit der reichen Industrieländer scheint einen ähnlichen Verlauf wie die Schweiz zu haben mit teilweise ein bis zwei Monaten zeitlicher Verzögerung. Der internationale Währungsfonds prognostiziert nahezu für alle Industrienationen einen schweren Einbruch mit einem V- oder U-förmigen Verlauf.

BK: Wie steht es um die Schweizer Exportwirtschaft?
AB: Der Export ist – wie der Konsum und die Investitionen – kurzfristig massiv eingebrochen, sogar noch deutlich stärker als zu Beginn der Finanzkrise. Wenn immer die Schweiz in eine Rezession gerät, liegt die Ursache praktisch immer in einem Rückgang des Aussenhandels. Diesmal haben wir aber eben zeitgleich auch einen massiven Einbruch der Inlandnachfrage gehabt.

BK: Welche wirtschaftspolitischen Entscheidungen sind im Kontext der COVID-19 Krise essentiell?
AB: Um die wirtschaftlichen Folgen in der aktuellen Krisensituation abzufedern, hat der Bundesrat ein umfassendes Massnahmenpaket verabschiedet. Erste Vorkehrungen betreffen den Arbeitsmarkt und hier insbesondere eine Ausweitung der Kurzarbeit. Diese ist ein grosser Segen des Schweizerischen Systems. Ohne sie hätten wir eine ähnliche Situation wie etwa in den USA, wo Unternehmen aufgrund von Liquiditätsproblemen gezwungen sind, in grossem Stile Mitarbeiter zu entlassen. Bereits in der Finanzkrise, wo wir eine klassische Rezession hatten, hat Kurzarbeit enorm weitergeholfen. Die Arbeitslosigkeit wird dennoch ansteigen, jedoch nicht explosiv. Sollte es zu einer zweiten Pandemiewelle und einem erneuten Lockdown kommen, sähe die Situation natürlich vollkommen anders aus. Die zweite wichtige Vorkehrung, welche die Schweiz zu Zeiten des Lockdowns getroffen hat, sind die unbürokratischen Liquiditätshilfen. Anträge konnten vonseiten der Unternehmen ohne grosse Vorbedingungen direkt an deren Hausbank gestellt werden. Nahezu alle Anträge konnten ohne grossen Aufwand bewilligt werden.

BK: Wie drastisch ist der Konsumrückgang aktuell?
AB: Der Konsumrückgang in dieser Krise war massiv, aber – wie man an der aktuellen Entwicklung sieht – wohl vor allem temporär. Für die Nachhaltigkeit der Konsumerholung spielen die weiteren Erwartungen eine Schlüsselrolle. Die Gefahr einer allfälligen zweiten Pandemiewelle mit Lockdown bestünde vor allem auch darin, dass die Konsumenten auf breiter Ebene ihre Ausgaben zurückschrauben würden, was eine deutlich schwerere Rezession auslösen könnte.

BK: Welche Branchen mussten oder müssen diesbezüglich den grössten Rückgang verzeichnen?
AB: Die Tourismus- und Reisebranche sowie der Freizeitbereich sind diejenigen Wirtschaftszweige, welche den grössten Schaden erlitten haben. Hier haben wir es nicht mit einer Konjunkturdelle zu tun, sondern mit einem Strukturbruch. Der Städtetourismus als einer der wichtigsten Tourismussparten ist am Boden, da dieser stark von den ausländischen Gästen lebt. Geschäftsmodelle, welche sich bis anhin bewährt haben, müssen im Tourismus neu überdacht werden. Die Flugbranche und Eventveranstalter sind ebenfalls tief und strukturell von der Krise getroffen worden.

BK: Wann ist eine Stabilisierung der Wirtschaftslage in diesen Branchen zu erwarten?
AB: Hier ist wie gesagt ein struktureller Effekt zu erwarten, das heisst, dass wir den Vorkrisen-Zustand hier kaum mehr erreichen werden. Ob etwa Geschäftsreisen dasselbe Ausmass erreichen werden, wie vor dem Lockdown, ist höchst fraglich.

BK: Welchen weiteren Herausforderungen muss sich die Politik in naher Zukunft stellen?
AB: Mit der Kurzarbeit, der erweiterten Arbeitslosenentschädigung sowie den Liquiditätshilfen sind von politischer Seite die erforderlichen Massnahmen getroffen worden, um das System zu stabilisieren. Weitere Stützungsmassnahmen wären nur dann angezeigt, wenn wir einen zweiten umfassenden Lockdown hätten, der ein Depressionsszenario hinaufbeschwören könnte.

BK: Was für ein Statement möchten Sie abschliessend zur Einordnung der COVID-19 Krise abgeben?
AB: Eigentlich dachten wir, dass wir mit der Finanzkrise eine Jahrhundertkrise erlebt hatten. Dass nach nur zehn Jahren eine ähnlich schwerwiegende, völlig anders geartete Krise folgen wird, damit haben wohl die Wenigsten gerechnet.

Autor

Aymo Brunetti

Aymo Brunetti (1963) ist ordentlicher Professor für Wirtschaftspolitik und Regionalökonomie am Departement Volkswirtschaftslehre der Universität Bern. Zudem ist er Direktor des Center for Regional Economic Development (CRED) an der Universität Bern.
Brunetti studierte Nationalökonomie an der Universität Basel, wo er 1992 auch doktorierte und  sich 1996 habilitierte. 1994/1995 verbrachte er ein Jahr als Visiting Scholar am Department of Economics der Harvard University. In den Jahren 1997-1999 war er vollamtlicher Vertreter eines ordentlichen Professors an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken. Zudem hatte er Beratungsmandate für die Weltbank und die International Finance Corporation inne.
Im März 1999 trat Brunetti ins Eidgenössische Volkswirtschaftsdepartement ein, zunächst als Vizedirektor des Bundesamtes für Wirtschaft und Arbeit. Ab Juli 1999 war er Mitglied der Geschäftsleitung im Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) und dort für den Leistungsbereich Wirtschaftspolitische Grundlagen zuständig. 2003 übernahm er die Leitung der Direktion für Wirtschaftspolitik im SECO und übte diese Position bis zu seinem Ausscheiden aus dem Bundesdienst Ende Januar 2012 aus.
Aymo Brunetti ist verheiratet und hat zwei Kinder.

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