safe abgetaucht
Text: Anja Trieschmann, Miriam Engelhardt
Stille ist ihr Feind. Wer im Chat nicht zeitnah antwortet, läuft Gefahr, nicht mehr safe geliked oder mit Flämmchen belohnt zu werden, also rauszufliegen aus der Bubble, die vor Einsamkeit schützt. «Wenn’s zu still ist, fühle ich mich unwohl. Am besten kann ich lernen, wenn ich in der Küche sitze und alle Geschwister rennen um mich herum», sagt Zarah (17), Schülerin eines beruflichen Gymnasiums. Oder Thorsten, als er hört, dass die Schulklasse eine Wanderung macht – ohne Handy, nur Natur und Spass und Spiel: «Das schaff ich nicht, einen ganzen Tag ohne Handy. Da werde ich verrückt!»
Im World Wide Web finden sich unzählige soziologische Studien und Marketing-Analysen über die Generation Z, auch Gen Z genannt oder Generation Snowflake, Greta, Zero, Zombie oder Digital Natives 2.0. Für viele Erwachsene, Lehrende, Ausbilder*innen und Führungspersonen sind sie allerdings trotzdem ein Rätsel, die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, ab 2000 geboren (die Forschung zählt manchmal auch die Jahrgänge ab 1995 dazu). Heute sind sie zwischen 15 und 25 bis 30 Jahre alt. Die Versuche, ihr Verhalten einzuordnen, ihre Haltung zum Leben zu verstehen und sie für den Arbeitsmarkt zu gewinnen, offenbaren Ratlosigkeit bei den Vertreter*innen der Vorgängergenerationen, den X-lern, Y-ern und Babyboomern. Aus ihrer Perspektive gibt die Generation Z ein widersprüchliches Bild ab. Es ist Zeit, diese Widersprüche unter die Lupe zu nehmen: Was steckt dahinter? Weshalb ist die Gen Z so?
In den Medien wird sie oft als unzuverlässig, faul und handyversessen abgestempelt. Z-ler gelten als diejenigen, die wie selbstverständlich berufliche Privilegien einfordern, für die vorherige Generationen erst kämpfen mussten: Homeoffice, ein stattliches Einstiegsgehalt, Spass bei der Arbeit, Work-Life-Balance und sofortige Akzeptanz im Team. Sie werden als die belächelt, die selbstbewusst Erwartungen an ihr Umfeld formulieren und bei allem, was sie lernen oder tun sollen, nach dem Nutzen für sich fragen. Sie sind diejenigen mit den hochfliegenden Träumen: «Influencer werden, dick Kohle machen», gibt Samuel als Berufsziel an – und nennt damit Berufswunsch Nummer eins seiner Altersgruppe. «Was bringt’s mir, ein Drama zu analysieren? Schule sollte vielmehr erklären, wie ich eine Steuererklärung richtig mache.» Alltagsrelevanz steht auf ihrer Wunschliste weit oben. Verstehen, wie das alles funktioniert, was man als Erwachsene*r können muss. Denn Erwachsensein wird von Z-lern als komplex, unübersichtlich und insgesamt wenig erstrebenswert angesehen.
Da die Z-ler wenige sind, geburtenschwach, eine vergleichsweise kleine Generation, können sie beruflich zwischen unzähligen Möglichkeiten wählen. Denn zeitgleich mit ihrem Eintritt ins Berufsleben scheidet die geburtenstarke Generation der Babyboomer aus. In aktuellen Studien werden auch die Konsum- und Medientrends der Gen Z erforscht. Firmen lassen sich davon inspirieren, um ihr Job-Recruiting den Gewohnheiten der GenZ anzupassen. Um jede*n Einzelne*n wird auf dem Arbeitsmarkt geworben. Nicht immer zeigt diese Werbung einen realistischen Arbeitsalltag. Doch lange bevor sie dies erkennt, hat die Generation Z schon Angst vor der Auswahlfülle: Was passt zu mir? Was mache ich mit meinem Leben? Was gibt mir die Sicherheit, die ich brauche? Was, wenn der Job nicht hält, was er – finanziell, an Sinn, an Sicherheit – verspricht? Während die Boomer-Generation ihren Beruf fast nie frei wählen durfte, sondern in die Normalbiografie der Familie rutschte oder hart dafür kämpfen musste, ihren Wunschberuf auszuüben, bereitet den Z-lern bereits die Wahl ihres Wunschberufs Qualen. Denn Entscheiden heisst – wenn alle Wege offen stehen – immer auch, vieles sein lassen zu müssen, und vielleicht haben andere eine bessere Wahl getroffen und ich stehe in meinem vermeintlichen Wunschberuf bald für alle sichtbar dumm da?
Die Z-ler sind aber auch einen Wissensvorsprung auf die Älteren gewohnt: Bereitwillig erklären sie ihren Eltern oder Grosseltern, wie man einen Post auf TikTok oder Instagram hochlädt. Sie schreiben Tafelbilder nicht mehr ab, sondern fotografieren sie und speichern sie in digitalen Ordnern. Statt in Schulbüchern nachzulesen oder sich auf die – aus ihrer Sicht vielleicht langatmigen – Erläuterungen der Lehrperson einzulassen, schauen sie lieber Tutorials im Netz, um Algebra oder physikalische Gesetze zu verstehen. In der Hoffnung, dass es dort noch besser erklärt wird. Und beim Arbeiten mit Übungsprogrammen bekommen sie augenblicklich ihr Feedback und müssen nicht wochenlang auf die Rückgabe der Klassenarbeit warten.
Wo kommen sie her? Warum sind sie geworden, wie sie sind? Zwei Faktoren sind für die Z-ler besonders prägend: Erstens die neuen Erziehungsstile. Elternhäuser und Schulbildung sind heute gar nicht mehr so weit voneinander entfernt. Man möchte kein hierarchisches Befehl-Gehorsam-Verhältnis, Erwachsene empfinden sich eher als Coach und unterstützen die jungen Menschen mit ihren individuellen Zielen und Bedürfnissen bestmöglich. Schon die kleinen Kinder werden danach gefragt, was sie essen, anziehen oder spielen wollen, denn als Erwachsene*r will man heute die Bedürfnisse der Kinder wahrnehmen. Babyturnen, Frühförderung, entwicklungsgerechtes Spielzeug, Biokost – man will nur das Beste für die Kostbarsten. Eltern fühlen sich aber auch oft unter einem enormen von aussen kommenden Leistungsdruck, was die Kindererziehung angeht. Man möchte nicht hinter den anderen zurückstehen oder als Rabeneltern gelten. Die Sorge um das Wohl des Kindes treibt Erziehende oft in Helikopter-Bemühungen und hält sie auf Trab: Lückenlose Beschäftigung wird durch Fahrdienste, die Bereitstellung altersgemässen Spielzeugs und technische Devices gesichert.
Lerntheoretisch ist Unterstützung und Förderung eine begrüssenswerte Sache. Gleichzeitig erzieht dieses Dauerüberangebot die junge Generation jedoch zu Inputjunkies und der Druck steigt. Pausen im Berieselungsstream sind ungewohnt oder werden als bedrohlich wahrgenommen. Mit grosser Selbstverständlichkeit erwarten sie von den anderen, dass sie aktiv auf sie eingehen. Denn eigene Aktivität haben sie nicht so sehr gelernt; meistens kamen längst bevor sie selbst was hätten unternehmen müssen die Angebote oder Ansprüche von aussen – sich abgrenzen und ignorieren war da eher eine geforderte Strategie. «Sie haben nie um etwas kämpfen müssen und dann studieren sie BWL und wohnen zuhause, weil ihnen nichts Besseres einfällt», kommentiert ein junger Erwachsener, der zwar nicht studiert, aber auch selbst noch zuhause wohnt, seine Altersgenossen. Mit grosser Selbstverständlichkeit stellt diese Generation ihre persönlichen Ziele und Bedürfnisse ins Zentrum (auch schulischen Lernens) und erwartet, dass von den anderen aktiv darauf eingegangen wird. Aber nicht aus Egozentrismus, sondern aus langjähriger Gewohnheit.
Die zweite Veränderung, die Gen Z schon im Kindesalter erlebt, ist der rasante Ausbau der WLAN-Abdeckung, die flächendeckende Verbreitung von Smartphones und vor allem von Social-Media-Nutzung. Es ist prägend, wenn man schon als Kind viele Stunden Fotos und Filmchen anschaut, die mit zunehmendem Alter von Gleichaltrigen – also der potenziellen Peergroup, der ich gern ähnlich wäre – produziert sind. Und sie zeigen alle – gut ausgewählt oder bearbeitet – nur die Superlative dieser Welt. Das schönste, lustigste, gefährlichste, intensivste Erlebnis … immer ist es bei den anderen gepostet. Viele können gut damit umgehen. Viele nicht. Wie kann man sich da selbst noch in die Erfahrungswelt hineintrauen, wenn die eigenen Bilder nie an die der anderen heranreichen? Und es hilft nichts, selbst nichts zu posten. Dann übernehmen das die anderen. Wie kann man sich noch rauswagen, wenn man doch weiss, dass man sofort bei irgendwem auf einem Gruppen-oder Einzelfoto abgebildet und gepostet wird? Der Druck zur Selbstdarstellung und entsprechend die Angst, nicht zu genügen, sind um ein Vielfaches gestiegen bei Gen Z. In früheren Generationen waren in dem Ausmass nur Prominente exponiert.
Der Dauerstress durch Internet und Social Media ist heute Alltag für die Heranwachsenden. Und macht sie unsicher: Überall lauert die Verführung, die Lüge, die Täuschung und Selbsttäuschung. «Wir werden ständig mit Algorithmus-gesteuerten Infos zugeballert. Wir sind Versuchskarnickel für die sozialen Medien – das ist überfordernd», sagt eine, die es geschafft hat, Anastasia Barner (25), Influencerin und Start-up-Gründerin, über die Jugendlichen ihrer eigenen Generation. Überfordert seien sie von der riesigen Auswahl, von Info-Fluten, von hohem Erreichbarkeits- und Leistungsdruck, einem selbst gemachten oder gesellschaftlich gefühlten. «Wir leben im Speedy-Gonzales-Modus, rasen in 12 Jahren zum Abi, dann Studium in drei Jahren. Es lastet ein Druck auf uns – immer das Nächste, Beste suchen, um Teil zu sein von der viral gehenden Bubble.»
Die Jugendlichen wachsen in einer Gesellschaft auf, in der die Einflüsse zunehmen und die Verlässlichkeiten bröckeln. Sie erleben die Erwachsenen nicht mehr als die, die wissen, wie die Welt zu retten, wie Kriege zu beenden, wie Klimawandel aufzuhalten und Zukunft zu garantieren oder nur schon welche Berufe sicher seien. Keine*r weiss mehr so richtig, wo’s langgeht, auch Mama und Papa nicht, und erst recht nicht die meisten Lehrkräfte. Kein Wunder, orientieren sich die Heranwachsenden an den Bildern, die ihnen die Medien servieren und die Glücksversprechungen enthalten – und entwickeln daraus einen Perfektionismus-Anspruch. So sexy, so smart, so erfolgreich sind alle in so kurzer Zeit!
«Wo solche Medienbilder den sozialen Alltag durchdringen, da bleibt das kindlich-jugendliche Selbst hoffnungslos zurück», schreibt der Kindertherapeut Wolfgang Bergmann bereits 2007 über die Entwicklung, die er bei Jugendlichen beobachtet. In diesem Ersatz-Sozialgefüge, so Bergmann weiter, «kann es sich nicht spiegeln», das Selbst, «in ihm kann es sich nicht realistisch zur Geltung bringen; es macht kaum noch Sinn, an sich zu arbeiten und zu reifen. Die Jugendlichen starren auf diese Perfektion und sinken zurück in Resignation.»
So ist es traurig, aber wahr, dass wir eine rasante Zunahme an psychischen Belastungen bei Generation Z erleben. Eine für die Schweiz und Liechtenstein repräsentative Studie zur psychischen Gesundheit von Jugendlichen berichtet, dass über ein Drittel der Jugendlichen von psychischen Problemen betroffen ist. Depressionen und Ängste führen die Liste an. Und oft sind es eben keine Kleinigkeiten, ist es nicht getan mit einem «Stell dich nicht so an» oder «Reiss dich zusammen», wie es gern die Babyboomer oder Generation X an dieser Stelle denken oder sagen und damit unbewusst die Erziehungssätze ihrer Eltern wiederholen. Nein, es sind keine Lappalien, denn acht Prozent, d. h. jede*r elfte der befragten Jugendlichen hat mindestens einmal versucht, sich das Leben zu nehmen. Schulabstinenz, hohe Fehlzeiten, psychische Belastungsstörungen beanspruchen Klassenlehrer*innen und Ausbilder*innen inzwischen fast mehr als die Vorbereitung und Vermittlung des Lernstoffs.
Gefragt nach Themen, die sie beschäftigen, umtreiben, die in der Luft liegen, antworten Z-Zugendliche: Angst liege in der Luft. Vor der Inflation, vor Krieg, Extremismus, weiteren Pandemien, Klimawandel. Auch Sorge um die persönliche Zukunft. Davor, nicht genügend zu verdienen. Keinen Job zu finden, der zu einem passt oder der genügend Sicherheit bietet. Danach gefragt, wodurch ihre Ära massgeblich geprägt sei, sagen sie: durch Technologien, Internet, Social Media, KI, medizinische Durchbrüche und tausend Möglichkeiten, aus denen man wählen muss. Einige sagen, dass sie sich andauernd unter Stress fühlen. Überfordert. Und dass sie deswegen hin und wieder abtauchen müssten. Andere (oder auch die Gleichen) setzen ein Gegengewicht: Spass sei ihnen wichtig im Leben. Trotz allem. Familie, Freunde, Beziehungen– sehr wichtig.
Ein solches Gegengewicht wünschen sich die Jugendlichen auch von den Erwachsenen. Deshalb können wir auch in diesen Bereichen den Zugang zu ihnen suchen, damit die Schule, der Betrieb, überhaupt die Erwachsenenwelt wieder sinnhaft und attraktiv für sie werden. Notwendig geworden sind ein individueller, aktiver Beziehungsaufbau und klare Orientierung. Es geht um Geborgenheit, darum, wahrgenommen zu werden als Mensch, um Safe Places, in denen der auf jegliches und alles zielende Optimierungsdruck einmal Pause hat oder sortiert wird auf ein erreichbares Ziel hin. Das wünschen sich nicht nur die psychisch Belasteten, sondern auch die Stabilen, die weniger Begabten genauso wie die Überflieger – sie alle wollen abgeholt werden, dort, wo sie sind, Dinge lernen, die ihnen etwas bringen, und einen Weg gezeigt bekommen in die echte Welt. Auf welcher Karrierestufe sie diese echte Welt ansiedeln, spielt dabei weniger eine Rolle, das ist individuell verschieden. Aber sie wollen weder unterfordert werden noch mit abstrakten Themen ihre Zeit absitzen noch allein ins kalte Wasser geworfen werden. Beziehung ist Trumpf: Empathie und Anerkennung nicht über einen Like, sondern über echte Menschen, bei denen man willkommen ist, das wäre schön. Klarheit und Orientierung wünschen sie sich – als gute und individualisierte Sortierhilfe in dieser unübersichtlichen Welt der Anforderungen. Begleitung in der schwierigen Frage: Was passt zu mir? Und was genau muss ich tun, um es zu erreichen?
Wenn Schule, Ausbildung und Betrieb das bieten: wertschätzende Persönlichkeiten, klare Regeln mit durchsichtigen Orientierungsmarkern, gern partizipativ erarbeitet, also eine hohe Klarheit und Präsenz auf Seiten der Erwachsenen bei gleichzeitigem ernstgemeintem Beziehungsangebot: Dann fühlen sich die Jugendlichen ein bisschen mehr zu Hause und Energie kann frei werden für ihre intrinsische Motivation.
«Wir sind nicht faul, wir sind überfordert. Wir sind Bambi auf der Strasse und der Scheinwerfer leuchtet uns an und wir bleiben stehen, weil wir nicht wissen, wohin.»
(Youtuberin Anastasia)