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Wie aus Lesefrust wieder Lesefreude entsteht

Rund ein Viertel der 15-jährigen Schüler*innen in der Schweiz verfügt nicht über die nötige Lesekompetenz. Das zeigen die neusten Ergebnisse der Pisa-Studie. Tatsächlich hat das Thema Lesen heute bei den Kindern und Jugendlichen einen schweren Stand. Weshalb ist das so? Lässt sich dagegen etwas unternehmen? Der Versuch einer Bestandesaufnahme, einer Ursachenforschung und einer Lösungssuche.

Text: Sebastian Weber

Ausgangslage

Lesekompetenz ist unentbehrlich. Egal mit wem man spricht, an dieser Erkenntnis gibt es nichts zu rütteln. Vielfach wird in diesen Zusammenhang vom Lesen als einer Schlüsselkompetenz gesprochen. Wie entscheidend es ist, dass unsere Kinder und Jugendlichen lesen können, das zeigt sich schon in frühen Jahren. «Wenn ich etwas lese, kann ich die Welt aus der Sicht des anderen beobachten», sagt Logopädin Silvia Anklin Crittin. Eben deshalb sei das Lesen auch so wichtig: «Es hilft dabei, die Empathie und den Perspektivenwechsel der Kinder zu schulen.» Das immersive Lesen fördere die Imaginationsfähigkeit und Kreativität, bestätigt auch Ariane Schwab Affolter, Dozentin für Fachdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. «Wenn wir lesen, können wir im Kopf irgendwohin reisen, in ein anderes Land, in eine andere Person.» Lesekompetenz sei die Voraussetzung für kritisches Denken, um Dinge beurteilen zu können, so Schwab. Schon an der Primarschule werde die Grundlage dafür geschaffen, dass wir später kohärent lesen können. Denn diese Fähigkeit wird auf der Stufe Sek. II unabdingbar: «Ein Teil der Lesekompetenz, die uns am Gymnasium interessiert, ist die Urteilsfähigkeit, wie ein Text einzuschätzen ist», sagt Patrick Keller, der seit über 20 Jahren als Gymnasiallehrer in Bern Deutsch unterrichtet. «Gerade in Zeiten von künstlicher Intelligenz wird es immer wichtiger, angemessen einschätzen zu können, ob die Quelle vertrauenswürdig oder ein Text subjektiv gefärbt ist.»

Die Lesekompetenz hat zudem einen starken Einfluss auf den beruflichen Werdegang und den akademischen Erfolg. «Kann man als Schüler*in nicht genügend gut lesen, ist dies für den weiteren Schulverlauf verheerend», ist sich etwa Gina Divis, Primarlehrerin an der Schule Köniz-Buchsee sicher. Es sei eine Kompetenz, die sich auf fast alle Fächer auswirke. Diese Beobachtung teilt auch Sandra Haller, die seit 24 Jahren als Berufsschullehrerin Allgemeinbildung unterrichtet: «Jugendliche, deren Lesekompetenz nicht ausreicht, werden in ihrer beruflichen Karriere klar beeinträchtigt.» Sie würden mit grosser Wahrscheinlichkeit später in einem Tieflohnsegment arbeiten.

Angesichts dessen könnten einem die neusten Ergebnisse der Pisa-Studie durchaus Sorgen bereiten. Demnach erreichen weiterhin 25 Prozent der 15-Jährigen das geforderte Mindestniveau im Lesen nicht. Der Unterschied zwischen den guten und schwachen Lesenden in der Schweiz werde immer grösser, ist in diesem Zusammenhang zu lesen. Gleichzeitig reisst aber auch die Kritik an der Pisa-Studie nicht ab. Es würden Äpfel mit Birnen verglichen, heisst es etwa. Zudem liege die Schweiz bei der Lesekompetenz über dem OECD-Durchschnitt. Alles nur Panikmache also? So einfach ist es nicht. Sandra Haller beobachtet, wie die Lesekompetenz der Jugendlichen schon seit mehreren Jahren abnimmt. Über die letzten 24 Jahre habe sie bei ihren Klassen die Inhalte vom Niveau her permanent nach unten anpassen müssen, sagt sie. An der Berufsschule Aarau, wo sie seit 15 Jahren unterrichtet, habe sie zu Beginn mit ihren Lernenden noch ein Buch wie «Anna Göldin – Letzte Hexe» von Autorin Eveline Hasler lesen können. «Heute kann ich das in derselben Berufsgruppe nicht mehr», stellt sie fest. Ähnliche Eindrücke teilt Primarlehrerin Gina Divis, die seit zehn Jahren Basisstufenklassen unterrichtet: «Die Lesekompetenz nimmt schon seit einigen Jahren deutlich ab.» Sie hat vor allem den Eindruck, dass die Schüler*innen heute mit weniger Vorkenntnissen eingeschult werden als dies noch zu Beginn ihrer Lehrtätigkeit der Fall gewesen ist.

Malú, 13 Jahre, 8. Klasse

Was liest du gerne?

Ich lese gerne Fantasyromane, weil man damit so gut in eine ganz andere Welt abtauchen kann.

Liest du lieber auf Papier oder am Bildschirm?

Lieber auf Papier. Es fühlt sich besser an. Das Buch kann man umblättern und, wenn man es fertig hat, zuklappen und ins Regal stellen.

Was magst du am Lesen am liebsten?

So kann ich immer neue Menschen und ihre Abenteuer kennenlernen. Jedes Buch, das ich aufschlage, führt mich in eine neue Welt.

Wie oft liest du in deiner Freizeit?

Ca. 30 Minuten täglich

Macht dir das Lesen im Unterricht auch Spass?

Im Unterricht macht mir das Lesen oft keinen Spass, weil es nicht die Geschichten sind, die mich interessieren.

Mögliche Gründe

Im öffentlichen Diskurs sind nach dem Bekanntwerden der Pisa-Ergebnisse viele Gründe dafür thematisiert worden, zum Beispiel die steigende Zahl an Schülerinnen mit Migrationshintergrund oder der Lehrpersonenmangel. Zudem ist die Frage aufgeworfen worden, wie die Zeit, welche die Kinder und Jugendlichen am Bildschirm verbringen, die Lesekompetenz beeinflusst. «Dies beginnt schon an der Primarschule, wo heute deutlich mehr Schülerinnen ihr eigenes Handy besitzen», sagt Gina Divis. Noch deutlicher wird die Thematik an der Berufsschule, wo Sandra Haller feststellt, dass ihre Lernenden heute wesentlich mehr Zeit am Bildschirm verbringen als früher, unter der Woche bis zu vier Stunden täglich. Als Folge davon hat sich die Art und Weise verändert, wie Kinder und Jugendliche heute lesen: Am Smartphone in kurzen Häppchen, mit vielen Unterbrüchen, Ablenkungen und Links. «Ein vertieftes Lesen wird auf diese Weise schwierig», meint Sandra Haller. Die Aufmerksamkeitsspanne entspreche häufig noch der Länge eines TikTok-Filmchens.

Nicht nur das Verhalten der Schüler*innen hat sich verändert, sondern auch dasjenige der Eltern. Fachdidaktikerin Ariane Schwab stellt fest, dass diese ebenfalls mehr Zeit am Handy verbrächten als früher, worunter oftmals der Austausch, die Kommunikation mit den Kindern leide. Wenn ein Kind für eine lange Autoreise zum Beispiel ein Tablet in die Hände gedrückt bekomme, habe das nicht die gleiche Wirkung, wie wenn mit den Kindern unterwegs gesprochen, gesungen oder gespielt werde, so Schwab. «Die Eltern kommunizieren heute vielfach weniger mit ihren Kindern und lesen ihnen weniger Geschichten vor als noch vor zehn Jahren», bestätigt Gina Divis. Diese Entwicklung mache sich besonders am Esstisch bemerkbar: «Die Eltern lassen ihre Kinder am Handy spielen, damit die Familie in Ruhe essen kann.»

Dabei sei genau diese Interaktion in der Frühphase extrem wichtig, sagt Ariane Schwab. Sie hebt besonders das interaktive Lesen hervor, bei dem das Kind als Gesprächspartner*in in die vorgelesene Geschichte miteingebunden wird. Aus der Forschung wissen wir, dass Kinder die Sprache in sozialen Zusammenhängen von ihren Bezugspersonen erlernen. «Bei der Frühförderung gibt es daher noch riesiges Potenzial», sagt Schwab. Sie möchte allerdings das Problem nicht darauf reduzieren, dass heute den Kindern weniger vorgelesen wird. «Studien zeigen, dass die Lesekompetenz vielmehr mit den sozioökonomischen Hintergründen zusammenhängt», sagt sie. Nicht alle Eltern würden die nötigen Ressourcen besitzen, um mit ihren Kindern zuhause lernen zu können. «Wir können die Leseförderung nicht an Eltern delegieren, die beruflich bereits komplett ausgelastet sind.»

Umso wichtiger ist es also, die Motivation für das Lesen in der Schule zu fördern. Die Begeisterung dafür sei an der Primarschule nach wie vor ungebrochen, stellt Gina Divis diesbezüglich fest. In diesem Alter sei die Neugierde noch sehr gross und die Schüler*innen würden sich darauf freuen, einmal in der Woche in die Bibliothek zu gehen. Im weiteren Verlauf der Schulkarriere nehme dieses Interesse jedoch immer mehr ab. Besonders der Übertritt von der dritten zur vierten Klasse sei ein heikler Punkt, an dem die Motivation der Kinder vielmals verloren gehe, sagt Divis. «Auf dieser Stufe werden die Texte länger.» Ariane Schwab meint, ein weiterer «Leseknick» erfolge auf der Stufe Sek. I. Sie führt das unter anderem darauf zurück, dass es während der Pubertät zu einer Neuausrichtung der Interessen kommt.

Lösungsansätze

Es würde Nahe liegen, mit dem Finger auf das Smartphone und das Tablet zu zeigen. Wird die Bildschirmzeit eingeschränkt, haben die Kinder und Jugendlichen wieder mehr Lust, ein Buch zu lesen. Doch so einfach ist es leider nicht. «Digitale Medien sind auch in der Schule nicht mehr wegzudenken. Es gilt mit ihnen umzugehen und ein Nebeneinander mit Büchern zu fördern», sagt Logopädin Silvia Anklin. Sie beobachtet, dass die neuen digitalen Medien an der Schule vermehrt genutzt werden. «Wenn es gut konzipierte, stufengerechte Lernprogramme gibt, können sie auf sinnvolle Weise lernwirksam eingesetzt werden », findet sie. Ihren Beitrag dazu leistet Silvia Anklin gleich selbst. Die von ihr entwickelte Blitzlese-App Klaro, die im Frühjahr im hep Verlag erscheint (siehe Seite 13), ist ein neues Angebot, um die Lesetechnik bei Schüler*innen ab sechs Jahren zu fördern. «Wenn Kinder lernen, flüssig zu lesen, um den Inhalt besser erschliessen zu können, bekommen sie auch mehr Freude am Lesen», so Anklin.

Patrick Keller vom Gymnasium Lerbermatt in Bern verteufelt die digitalen Medien ebenfalls nicht. Diese seien extrem attraktiv, insbesondere für 15- bis 19-Jährige. Das gedruckte Buch habe so einen sehr schweren Stand, sagt er. Seiner Meinung nach muss deshalb der motivationale Aspekt der Leseförderung stärker gewichtet werden, auch auf der Stufe Sek. II. Keller gibt zu bedenken, dass die kommenden Generationen von Schüler*innen alle nur noch Digital Natives sind. «Wir sind manchmal als Schule noch zu wenig flexibel, um auf diesen Umstand zu reagieren und den Jugendlichen Texte und Leseumgebungen anzubieten, die für sie wirklich attraktiv sind.» Um das zu erreichen, müsse das Potenzial der digitalen Angebote, auch die Entwicklung der künstlichen Intelligenz, genutzt werden, glaubt Keller. «Sie können uns helfen, die Jugendlichen wieder besser zu erreichen.»

Ohne sich anbiedern zu wollen, sollte die Schule die Lebenswelten der Jugendlichen stärker berücksichtigen, findet Ariane Schwab. Sie verweist in diesem Zusammenhang auf die sogenannte Tamoli-Studie von 2016/17. Diese kam zum Ergebnis, dass in der Oberstufe nicht jene Literatur im Unterricht behandelt wird, welche die Jugendlichen auch persönlich interessiert. Demnach würden die Schüler*innen in ihrer Freizeit am liebsten Science-Fiction, Fantasy, Abenteuergeschichten und Krimis lesen. Im Deutschunterricht besteht die Lektüre aber mehrheitlich aus politischen und gesellschaftskritischen Texten. Schwab wirft daher die Frage auf, ob in der Schule nicht vermehrt Texte gelesen werden müssten, die sich an der Realität der Jugendlichen orientieren.

Es müsse möglich sein, einen Klassiker der Literatur von seinem Sockel herunterzuholen, findet Patrick Keller. Als Analogie verweist er auf moderne Theaterinszenierungen. Eine heutige Aufführung von Goethes Faust sei meistens auch nicht werkgetreu, sondern entferne sich manchmal so weit vom Originaltext, dass dieser kaum noch wiederzuerkennen sei. Einen ähnlichen Ansatz schlägt Keller für das Gymnasium vor. So solle man dort zum Beispiel den Ansatz der Cancel-Culture, der die Jugendlichen offenbar beschäftige, auch einmal zum Thema machen. «Im Unterricht könnte ein Text etwa aus einer feministischen Perspektive beurteilt werden.» Selbst die anspruchsvolle Sprache von Heinrich von Kleist könne auf eine innovative Art thematisiert werden, findet Keller. «Es braucht einen spielerischen, unzimperlichen Umgang damit. » Die Klassiker dürften nicht wie ein unumstössliches Monument behandelt werden.

Sandra Haller ist an der Berufsschule froh, wenn ihre Lernenden überhaupt einmal zu einem Buch greifen. Sie weiss, das Thema Lesen ist bei vielen von ihnen mit Frust verbunden. Um dem entgegenzuwirken, hat sie kürzlich einen unkonventionellen Weg gewählt und die Lektüre für ihren Unterricht gleich selbst geschrieben. Entstanden ist ein Easy Reader, der dem Sprachniveau A2 und B1 entspricht. Für diesen «pädagogischen Präventionsroman», wie Haller ihn bezeichnet, hat sie einfache Satzstrukturen und eine chronologische Erzählweise verwendet. Auf komplizierte Wörter hat sie fast komplett verzichtet. Inhaltlich orientiert sich ihr fiktiver Roman, den sie im Selbstverlag veröffentlicht hat (www.lieseinfach.ch), an der Realität der Jugendlichen. So schreibt Haller etwa über Alltagssituationen im Lernbetrieb und behandelt Themen aus dem Rahmenlehrplan, etwa das Arbeitsrecht. Je nach Klasse könne das Niveau didaktisch angehoben werden, sagt Haller. Wichtig sei es aber, einfach einzusteigen und die Lernenden auf ihrem Niveau abzuholen. «Wenn wir wollen, dass die Jugendlichen wieder mehr lesen, darf die Lektüre nicht frustrierend sein.»

Jamie, 18 Jahre, Auszubildender Informatiker EFZ

Was liest du gerne?

Meistens lese ich Bücher, welche mir etwas für meinen Alltag bringen. Ein solches Buch wäre zum Beispiel «Why we sleep» von Matthew Walker. Ich finde es sehr spannend, solche Bücher zu lesen, da ich meistens sehr viel aus diesen Büchern mitnehmen kann. Ausserdem lese ich auch gerne Bücher über berühmte Persönlichkeiten. Ein Beispiel ist «Can’t hurt me» von David Goggins, welches zu meinen Lieblingsbüchern gehört. Ich finde es sehr spannend, einen Einblick in die Persönlichkeit zu erhalten und zu erfahren, weshalb sie erfolgreich geworden sind. Zur Abwechslung lese ich aber auch mal gerne ein Fantasybuch.

Liest du lieber auf Papier oder am Bildschirm?

Ich lese viel lieber an einem Bildschirm als auf Papier. Dies hat den Grund, dass ich mir vor kurzem einen E-Reader gekauft habe, von welchem ich voll begeistert bin. Ich finde ihn sehr praktisch, so muss ich nicht mehr in einen Laden gehen, um ein Buch zu kaufen, welches mich gerade interessiert, sondern kann es ganz einfach innerhalb weniger Minuten online kaufen und herunterladen. Ausserdem ist der Transport viel einfacher, da ein E-Reader viel kleiner und leichter ist als ein richtiges Buch.

Was magst du am Lesen am liebsten?

Am meisten schätze ich am Lesen, dass man sich konzentrieren muss und es gut geeignet ist, um nach einem aufregenden Tag etwas herunterzukommen. Ich finde es auch eine sehr gute Abwechslung zu Social Media.

Wie oft liest du in deiner Freizeit?

Ich lese etwa eine bis zwei Stunden pro Tag. Da ich einen relativ langen Arbeitsweg habe, kann ich in der Zeit, die ich zum Pendeln benötige, etwa eine Stunde pro Weg lesen.

Macht dir das Lesen im Unterricht auch Spass?

Das Lesen im Unterricht macht mir etwas weniger Spass, da ich meistens nicht sehr von dem Unterrichtsstoff begeistert bin.